Tanz der Götter und Dämonen
   Das Paro-Tschechu im Himalaja-Königreich Bhutan
Frühling am Himalaja, im Königreich der Donnerdrachen. Zur Zeit der Pfirsichblüte feiern die Bhutanesen ihr berühmtes Tsechu mit traditionellen Maskentänzen und buddhistischen Mysterienspielen. Hartwig Steiner war Gast beim fünftägigen Fest im Rinchenpung-Dzong über dem Paro-Tal.

Sein erstarrtes Lächeln verursacht mir Unbehagen, schafft Unsicherheit. Es ist das Lächeln einer Maske, süffisant und dämonisch zugleich, es scheint offen und ist doch für mich so geheimnisvoll wie der Träger dieser Maske des Spaßmachers. Dieses Lächeln irritiert mich, ich bin unfähig ihm unbefangen zu begegnen. Es steht über einem breiten und kantigen Gesicht mit herausragend großer Nase. Gekrönt wird die feuerrote, glänzende Maske von einem zum Puschel geflochtenen, nach vorn fallenden roten Haarzopf.

Verlegen lächelnd, und von der Neugier des Wissens um den Sinn seiner frivolen Späße geplagt, verfolgt eine Gruppe von Frauen jede Bewegung, jede Geste und Wendung des Spaßmachers. Junge Mädchen, von ihm besonders gern attakiert, kichern, lachen und schäkern – albern und sooo glücklich. Mit einem Schlag, von einem Augenblick zum andern, ist das heitere Spiel zu Ende, erstarrt, ausgelöscht, weggewischt.

Über dem heiligen Platz des Paro Tsechu tönen mächtig anschwellend, zurückfallend und in sich verhallend, die großen Radongs. Silberverziert, Schweizer Alphörnern gleich, schwingt aus diesen fast vier Meter langen Posaunen ein so nachhaltiger Ton der unseren Körper erfasst und ihn nach seinem Gesetz und Willen dröhnen und vibrieren lässt. Töne, einer aus dem anderen geboren, ohne Unterlass und Trennung fließend wie ein Fluss, ohne Rhytmus ziehend wie der Wind. Langsam sich vom einen ins andere, vom alten ins neue verändernd.

Mit diesen Posaunentönen vermischen sich die langschwingenden, nachhallenden Klänge schwerer Messingbecken und die dumpfen Schläge von Trommeln und Kessel-Pauken. Dazwischen klingen und schwingen Glöckchen und Glocken, Zimbeln und Gongs oder klagen und stöhnen gepresste Laute aus Muschelhörnern. Magie der Töne, der Ressonanzen und Schwingungen. Über dem Platz stehen die beschwörenden und Dämonen vertreibenden Klänge geheimnisumwobener, magischer buddhistischer Tempelmusik.

Die Lamas wissen um die Macht der uns Menschen prägenden Rhythmen, um die Wirkung von Ur-Laut und Ur-Melodie. Sie führen uns mit der Musik in eine Über-Welt, in die der Ur-Harmonie entspringenden Glückseligkeit.

Diese schleppenden, gezogenen, ineinanderfließenden Töne ergreifen uns ungehindert, wehen über die mit tausend Pilgern belagerten Hänge und füllen schließlich das ganz Paro-Tal.

Gebannt und in ehrfürchtiger Andacht richten die Pilger ihre ganze Aufmerksamkeit auf das große Tor am Fuß des mächtigen Dzongs. Und mitten im Dröhnen der magischen Klänge erscheint als riesengroße, alles überragende, bedrohende, beherrschende Macht, die Gestalt des Totenrichters Shinji, Gott der Toten, Richter der Verstorbenen.

Langsam umrundet die riesige Schreckensfigur, begleitet von Geistern und Dämonen, den heiligen Platz. Das Totengericht, die mythische Tanzpantomime Raksha-Mar-Chham, ist der Höhepunkt am vierten Tag der großen Tanz- und Mysterienspiele von Paro. In einem dramatischen Kampf ringen der gute weiße Genius und der schwarze General der Hölle um den Verstorbenen. Ein Szenario das vor Jahrhunderten aus dem tibetischen Totenbuch, dem Bardo Thödol, entnommen und von den Lehrmeistern sakraler Tanzspiele eindrucksvoll choreographiert wurde.

Das Totengericht offenbart das Leiden und den Kampf des Verstorbenen auf seinem 49tägigen Weg zwischen Tod und Wiedergeburt. Es ist der Spiegel aller Ängste und Hoffnungen, allen Bangens und Erwartens und zugleich auch ein Versuch in die Misterien des Lebens Einblick zu gewinnen – Reflexe der Seele und Spiegel des Lebens.

Nirgendwo in Asien wird die Kraft und Magie des Mahayana Buddhismus so ursprünglich und unverändert erlebbar wie hier im Paro-Tal am Fuße des Himalaja. Sicher hat die völlige Abschottung Bhutans dazu beigetragen, dass sich gerade hier jahrtausende- und jahrhundertealte Traditionen, Gebräuche und Gepflogenheiten, Wechselspiele der Wirkungen zwischen Göttern, Menschen und Natur, so rein erhalten und vertiefen konnten.

Vom gewaltigen Massiv des Himalajas im Norden gegen China abgeschirmt und im Süden durch ausgedehnte Dschungel- und Sumpfregionen gegen Indien gesichert, liegt neben Sikkim das kleine Königreich Bhutan. Seit 1972 regiert Jigme Singye Wangchuck als umsichtiger Monarch über ein Reich so groß wie die Schweiz, mit weniger als einer Million Einwohner. Tief eingeschnittene Täler zerklüften dies Land der Donnerdrachen, seinen Wappentieren – von Norden nach Süden. Sein von Kultur und Tradition geprägtes Zentrum liegt in West-Bhutan; mit der Hauptstadt Thimphu und den großen Klosterburgen bei Punakha und im Paro-Tal.

Erst 1972 konnte die Journalistin und Völkerkundlerin Prof. Dr. Gisela Bonn als eine der ersten, auserwählten Gäste das Königreich Bhutan bereisen und in eindrucksvollen Berichten dokumentieren. Danach hatte Gisela Bonn Bhutan zur Heimat ihres Herzens erwählt und jedes Jahr besucht. Der ihr entgegengebrachten Verehrung und Wertschätzung verdanke ich meine eigenen Einblicke, Erfahrungen und Eindrücke in Land und Leben, in Klöster und Feste Bhutans – wie sie bisher nur wenigen gestattet wurden.

Im ersten Monat des Frühlings, fünf Tage vor dem ersten Vollmond nach Frühlingsanfang, feiern die Lamas vom Richenpung-Dzong ihr bedeutendes Tsechu. Fünf Tage lang wird ein Innenhof des Klosters sowie der nahegelegene Festplatz zum Schauplatz von Wünschen
und Träumen, Glauben und Hingabe. Der Ursprung dieser magischen rituellen, religiösen Zeremonie in Paro reicht ins 17. Jahrhundert zurück. Seither ist Paro jährlich Ziel tausender Pilger aus dem ganzen Land. Einmal zumindest im Leben nimmt der Bhutanese eine oft beschwerliche, tagelange Reise auf sich, um diese Festtage mitzuerleben und an ihrer Segnung teilzuhaben.

Morgen für Morgen vollziehen Lamas und Tänzer eine gemeinsame Reinigungszeremonie im Innern des Tempels und schreiten dann in einer langen Reihe hintereinander zum heiligen Platz ihrer Tänze und Mysterienspiele.

Für die Bhutanesen übernehmen die heiligen Tänze die Rolle des Lehrmeisters. Durch sie wird gemeinsame Geschichte lebendig und das Wirken und Streben der Götter, Geister und Dämonen anschaulich. So bieten die Tsechus, die Feste der Lamas, anschaulichen Unterricht für Alt und Jung, für Mann und Frau, für Lama und Bauer. Der Tanz wird zum Vermittler transzendentaler Botschaft, zur anschaulichen Auseinandersetzungen von Gut und Böse, zur Parabel von der Kurzlebigkeit materieller Güter gegenüber dem Bestand geistiger Werte. Was Worte nicht vermögen, die Tänzer drücken es aus. Sie tanzen Liebe und Hass, Freude und Schmerz. Sie tanzen das Leben – und den Tod.

Plötzlich steht er unmittelbar vor mir. Ohne Distanz, direkt vor der Kamera. Grinsend, nach vorne wippend und gleichzeitig sich nach links und rechts wendend um das Gelächter über meine Erschrockenheit wie Applaus zu genießen, die Gunst seines dankbaren Publikums. Aus meinem Schreck heraus mache ich völlig unbeabsichtigt einen Schritt auf ihn zu, auf den Spaßmacher mit der lächelnden roten Maske. Und da plötzlich, eine Geste der Verlegenheit, faßt sich der Kobold nachdenklich mit einer Hand hinters Ohr, während mich die andere wie freundschaftlich am Arm berührt.

Während der fünf Festtage konnte ich dann ein wenig die Bedeutung dieses »Hofnarren«, »Jokers« und auch Liebling der Besucher erfahren. Er führt aus der Mystik zurück in die Welt, aus den Träumen wieder in den Alltag. Seine Possen während der Tänze und Spiele sind meist erklärende und weisende Brücken zum besseren Verständnis der oft verborgenen Inhalte. Er hilft den Tänzern eine sich lockernde Maske festzuzurren, auf den Platz drängende Kinder zurückzuscheuchen und mit seinen erotischen, pikanten Anzüglichkeiten und Possen über die Pausen zwischen den Tänzen die Zuschauer zu bannen.

Shhanag – Tanz der Schwarzhüte hat uralte Tradition. Er zeugt von der Kraft der heiligen Tänze und Zeremonien als Schlüssel und Spiegel der Religion und der Geschichte dieses geheimnisvollen Landes. Frieden, Glück und Wohlstand sind dem gewiss, der sich vom Rhytmus und der Ekstase der Tänzer aus Raum und Zeit hinaustragen lässt, die Selbstbezogenheit auflöst und tanzend ein Teil des Universums wird, das sich wiederum im kosmischen Rhythmus manifestiert.

Bhutan, das Land der Donnerdrachen, der Magier und Magie, wird nirgends eindrucksvoller erlebbar und spürbar als in den Tänzen der großen religiösen Feste, der Tsechus. Ihr Ursprung geht auf eine Reinigungszeremonie Padmasambhavas zurück, der im 8. Jahrhundert den Buddhismus über Tibet nach Bhutan brachte. Ihm zu Ehren, dem großen Religionsstifter, dem Lotusgeborenen, werden die Feste gefeiert. Seinen Segen erflehend werden ihm und seinen Lamas großzügige Spenden zugedacht.

In den Klosterburgen, den Dzongs, gehört die Übung »gar« (das Erlernen der heiligen Tänze) zu den unerlässlichen Aufgaben klösterlicher Erziehung. Chhampon, der Meister des Tanzes, ein hochrangiger Lama, führt die Tänzer in die Geheimnisse und Regeln, in die Geschichte und Choreographie der Tänze ein. In unveränderter Form wurden sie, eingebettet in das klösterliche Leben, über Jahrhunderte erhalten und weitergetragen.

Der Wirklichkeit entrückt, in fast schlafwandlerischer Trance, setzt der Tänzer seine Schritte, einer festen, unumstößlichen Ordnung und Regie gehorchend, vielleicht besser gesagt, unmerklich von ihr geführt und beherrscht. Immer wieder vollzieht er den rituellen Donnerkeilschritt. Und plötzlich, nach einer schwungvollen Drehung der Oberkörper aus der Hüfte heraus, schnellen die Tänzer in die Luft. Für Augenblicke scheinen sie zu schweben. Der Kopf ruht zwischen den ausgestreckten Armen, der Körper liegt auf den Schenkeln. Die fließenden Stoffe der farbigen, raffiniert geschnittenen und gesteckten Kostüme erstarren für Momente zu glockenähnlichen Gebilden. Tanz als Ausdruck der Kraft und Lebensfreude, der Hingabe, des Rausches und sich Auflösens. Zur Verehrung der Götter, zur Überwindung der Mächte des Abgrunds, des Bösen, am Schluss siegt das Gute.

» Ich ernenne Dich bei Deinem Namen, damit Du leben kannst«, »Ich rufe Dich, damit Du bist«. Mit diesen magischen Formeln erwecken die Lamas die Masken vor ihren Tänzen zum Leben.

Ein Ritual der Weihe und Reinigung nach 12monatiger Ruhe im Schutz der Geheimkammer des Klosters. So erwacht die Maske zum Leben, wird zum Sinnbild ihrer Darstellung, zur Gottheit oder zum Wesen, das mit dieser Gottheit im magischen Verbund steht. In der Maske lebt der Tänzer das Schicksal ihrer Wesenheit und Bestimmung, sein Tanz verkörpert ihren Weg und ihre Handlung.

Die phantasievollen Formen, Symbole und Bilder der buddhistischen Mythologie sind grenzenlos und doch unterliegen sie klaren und festen Regeln und einem uralten Gesetz. Ordnung aus der Kraft des kosmischen Chaos. Götter in Menschengestalt, Dämonen und Geister in Tieren und Fabelwesen. Die Masken nach überlieferten Anleitungen aus Holz geschnitzt und eindrucksvoll farbig gefaßt, sind oft jahrhundertealt. Jährlich wiedergeboren werden auch sie zum Sinnbild buddhistischer Philosophie des ständig wiederkehrenden. Vielfach sorgfältig ausgebessert und geflickt mit sichtbaren Klammern und Bändern liegt ihr Wert ausschließlich in ihrer eigenen Geschichte und Bestimmung.

Dicht drängen sich rund um den Festplatz die Besucher. Vorn sitzen stumm und staunend Kinder und ihre Mütter. Dazwischen dreht ein alter Mann seine Gebetsmühle, ein Gebets-Kranz mit 108 Perlen gleitet durch die Finger seiner anderen Hand und in sich versunken murmelt er seine Gebete. Dahinter stehen dicht an dicht die Männer und verfolgen ergriffen das Geschehen, die Tänze und Mysterien. Sie alle tragen mit Stolz und Würde ihre Festtagskleidung, ihre Nationaltracht. Die Männer tragen den Kho, ein in der Taille gegürtetes mantelartiges Gewand. Bei den einfachen Pilgern hängt über die linke Schulter ein weißer Schaal – das Herz soll bedeckt sein. Tracht der Frauen ist die Kira, ein ärmelloses, knöchellanges Kleid – selbstgewoben mit traditionellen Mustern und eindrucksvollen Farbspielen. In Schulterhöhe wird die Kira von zwei mit einer Kette verbundenen Silberbroschen gehalten.

Selbstbewusst und liebenswürdig, würdevoll und doch bescheiden, heiter aber nicht ausgelassen, so erlebe ich die Bhutanesen. Eine starke Neigung scheinen diese Menschen zum Glücksspiel zu haben. Denn zwischen Buden und Garküchen, zwischen Stoffen und Gerätschaften für Haus und Hof, neben dem Gebete murmelnden Manip mit seinem Wanderschrein, wird jeder freie Fleck des Jahrmarktes beim Paro-Fest zu Glückspielen genutzt. Zu Roulette, Würfel- und Zahlenspielen, zu Wurf-, Angel- und allen denkbaren Geschicklichkeitsspielen. Meist winken als Gewinn ein Geldschein oder das leichte einheimische Bier. Und auch viele der Lamas setzen mit Eifer auf die Gunst einer glücklichen Stunde, einer geschickten Hand.

Überall lagern Gruppen und Familien, plaudern und lachen, trinken Schalen mit dem räsen, sämigen Buttertee, verspeisen die in geflochtenen Körben und Schälchen mitgebrachten, mit rotem Chili geschärften Reisgerichte oder kauen ihre Betelnußblätter mit Kalkcreme vermischt.

Das Tsechu von Paro ist aus. Die Randongs sind verstummt. Nach dem magischen, reinigenden Ritual der Lamas zu Füßen der riesengroßen, heiligen Thanka des Padmasambhawa endet das Fest am Mittag des fünften Tages. Einer nach dem andern verlassen die Mönche in einem langen Zug den Festplatz. Sie kehren zurück in die Abgeschiedenheit und Meditation ihres Geheimtempels.

Fröhliche, vergnügte und zufriedene Festbesucher – mit sich und ihrer Seele wieder im Reinen – strömen wie Wogen hinab ins Paro-Tal. Ich bin mittendrin. Ein Lama hält seit langem mit mir Schritt. Er lächelt mich an, grinst mir zu und schaut verlegen weg. Wieder das Lächeln, eine Hand greift hinter den Kopf und die andere berührt zögernd und freundschaftlich meinen Arm. Wir lachen uns beide an und schon verschwindet er im Gewühl der treibenden Menge. Ein Spaßmacher, der sich auf Spaß und auf Freundschaft versteht. Ich habe ihn aus den Augen verloren – jedoch nicht aus meinen Gedanken.

Sein Leben bestimmt die buddhistische Weisheit:
» Der Mensch ist, was er war.
Der Mensch wird, was er ist. ««

© Hartwig-E. Steiner, Stuttgart 1994

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